Am 4. November 1989, genau heute vor 30 Jahren, gab es die erste offiziell angemeldete Protestdemonstration in der DDR. 500 000 Menschen waren nach Berlin gekommen, um für ein entstaubtes, demokratisches Land zu demonstrieren. Keine Gewalt war das oberste Gebot an diesem Tag. Am Sonntagabend erinnerten im Roten Salon der Berliner Volksbühne prominente Gäste an diesen Tag der friedlichen Revolution. Eingeladen dazu hatte die Fraktion DIE LINKE.
Ein Bericht von Gisela Zimmer. Zuerst veröffentlicht am 4. November 2019 auf der Seite der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag.
Was war er schön, dieser 4. November 1989! Wie viel Witz hatte er, wie viel Mut brauchte er und wie viel Kraft ging von ihm aus. Jutta Wachowiak war damals dabei, Schauspielerin am Deutschen Theater. Annekathrin Bürger auch, Schauspielerin an der Volksbühne. Der Schriftsteller Christoph Hein. Gregor Gysi, damals nur Rechtsanwalt. Und Paul Werner Wagner, er gehörte im Jahr ’89 dem Demokratischen Aufbruch an. Jetzt, drei Jahrzehnte später, erzählten die fünf von den aufregenden Herbsttagen und wie er zustande kam, dieser unglaubliche 4. November.
Niemand wusste, ob der Tag friedlich enden würde
Er fiel nicht vom Himmel, reflektiert Paul Werner Wagner. Schon lange vor der eigentlichen Demonstration gab es den heftigen „Wunsch nach Veränderung“. Und der „Protest entstand nicht nur unter dem Dach der Kirche“, sondern auch in vielen privaten Wohnstuben, an Küchentischen, in Betrieben. Er erzählt von Runden, in denen Kunstschaffende aller Facetten, Frauen und Männer aus der Wissenschaft, Genossen und Nichtgenossen zusammensaßen, und offen über Alternativen, Reformen, Veränderungen debattierten und nachdachten. Niemand wusste am Morgen des 4. November, ob der Tag friedlich enden würde. Dass es so kam, sei den Menschen selbst zu verdanken, ihrer „Politisierung“. Innerlich waren sie längst aufgestanden, jetzt war der „aufrechte Gang“ plötzlich möglich, ein Akt der „Selbstbefreiung“. Beifall aus dem Publikum.
Eine Premiere für Gregor Gysi
Es ist zu spüren, auch viele von ihnen waren 1989 inmitten des endlos langen Zuges, der vor der Prachtstraße Unter den Linden links abbog und eben nicht in Richtung Brandenburger Tor (deutsch-deutsche Grenze) marschierte, sondern zur großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz. Jutta Wachowiak erzählt mit ihrer unnachahmlich trockenen Ironie, dass sie „Schiss“ hatte. Sie würde nicht zu „Heldentaten“ neigen, hätte „nur die Nase voll gehabt“ von all dem Reinreden, den Verboten und Geboten. Aber als sie dann sah, wie viele kamen und wie frech-freundlich diese Demonstration war, wurde ihr „leicht“. Es waren die Künstler aus der gesamten kleinen DDR, die diese machtvolle Demonstration auf die Beine stellten. Es war Gregor Gysi, der sie damals beriet, wo und wie man eine solche Demonstration anmeldete. Er musste sich selbst erst schlau machen, denn bis dahin hatte überhaupt niemand so etwas angemeldet. Gysi redete dann auf dem Alexanderplatz. Eine Premiere, nie zuvor hatte er auf einer politischen Veranstaltung gesprochen, und schon gar nicht vor so vielen Menschen.
Müde und mutig
Auch Christoph Hein zählte zu den Mutigen auf dem Laster, der umgebaut als Tribüne herhalten musste. „Müde“ sei er gewesen, sagt der Schriftsteller. Müde, weil er in diesen galoppierenden Herbstwochen nicht mehr zu seiner eigentlichen Arbeit kam, dem Schreiben. Hein hatte die Demonstration mit vorbereitet, Hein arbeitete aber auch bereits im Untersuchungsausschuss, der die gewalttätigen Polizeiübergriffe vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin aufklären wollte. Von einem Spiegel-Redakteur wurde er nach seiner Rede gefragt, warum „keine einzige Losung nach Wiedervereinigung“ zu sehen sei. Da war kein Thema. Nicht am 4. November mit den 500 000 Menschen, nicht bei den Demonstrationen zuvor in Leipzig und Berlin und auch nicht in der Resolution der Musiker Mitte September 1989. Darin hieß es: „Wir wollen in diesem Land leben und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche einer gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw. ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier und sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften.“
Sie wollten Demokratie
Dialog und Demokratie – eingeklagt am 4. November 1989 von einer halben Million sichtbaren Menschen. Sie wollten Demokratie, keinen Kapitalismus. Sich heute wieder daran zu erinnern, ist keine schlechte Idee.
Die Rede war kurz und unaufgeregt, in ihrer Forderung aber umso klarer: „Die Macht gehört nicht in die Hände eines Einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei“, sagte der Schriftsteller Stefan Heym am 4. November 1989. „Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert.“